„Die sind wir nicht! Die sind wir nicht!“ Identität und Alterität in Wolken.Heim.

Das Fremde / das Andere – oder besser; das vermeintlich Fremde / Andere und damit das ebenso nur vermeintlich Eigene – ist von Beginn an ein zentrales Thema in Elfriede Jelineks Werk und ist es in vielen Ausformungen. Schon in dem sehr frühen Text DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs (1969)1 spielt ein den Dorfalltag gehörig durcheinanderwirbelnder Fremder die Hauptrolle. Ein Fremder jedoch, der zum einen weniger fremd ist als es sein „Name“ beziehungsweise seine Bezeichnung („der fremde“) vermuten lässt („der fremde kennt hier und in der umgebung jeden weg und jeden stein. er ist hier aufgewachsen.“2), zum anderen auch weniger Mann ist, als es scheint und vielleicht sogar weniger lebendig („der fremde ist selbst ein sehr hübsches mädel bis auf die ein wenig vorstehenden eckzähne“3).4 Andersheit (ob als das „andere Geschlecht“5, der ethnisch Andere etc.) wird damit schon in diesem frühen Text dekonstruiert, was bedeutet – und diese Anmerkung scheint mir ob des Begriffs, der gerade in der Jelinek-Forschung zwar oft als Schlagwort verwendet wird, nicht immer aber die Lektüre als theoretische Denkbewegung anleitet, wichtig –, dass nicht einfach die Hierarchie der binären Oppositionen umgedreht wird, sondern dass „[d]as Terrain, auf dem die Opposition entsteht […] ‚desorganisiert‘“ wird, „nicht etwa, [um] einen dritten Term nach dem Vorbild der spekulativen Dialektik zu errichten“, sondern um „das Urteilsmuster eines Weder-noch oder eines Sowohl-als-auch im Sinn des strengen Zugleich“6 zu erreichen.

Das Fremd-Sein / Anders-Sein ist, wie man schon an diesem Beispiel sieht, selten das Anders-Sein einer marginalisierten Gruppe. Zumeist sind Fragestellungen von diversen In- und Ausschlussprozessen miteinander verknüpft, nicht zuletzt weil die strukturellen Ursachen und (zugleich) Auswirkungen der Marginalisierungen miteinander verknüpft sind. Zugleich aber sind die Begriffe, die ich bisher (scheinbar) recht achtlos verwendet habe, wie das/ der/die Andere, wie es Wolfgang Müller-Funk ausdrückt, „Denkfiguren auf allerhöchster philosophischer Ebene“, weswegen er für die Notwendigkeit einer „Phänomenologie der Differenzen von Differenzen“ plädiert, die zeigen könnte, „dass die andere nicht identisch mit dem anderen ist, weder mit dem personalen, noch mit dem ‚neutralen‘, dass ‚der (kulturelle) Fremde‘ und der ‚Andere‘ nicht notwendig zusammenfallen“ – kurz, dass man „in jenem theoretischen Minenfeld […], die Unterschiede, Abstufungen und Differenzen, ihre fließenden Übergänge, aber auch ihre kontrastiven Akzente zwischen den verschiedenen Modi des Fremden“7 herausarbeiten müsse. Dies geschrieben habend, flüchte ich mich wieder in die unbestimmte Form – da eine derartige Aufgabe nicht in einem Aufsatz (wohl auch nicht in einer Monographie) bewältigbar wäre –, um zumindest auf einige „Andersheiten“ hinzuweisen, die Jelineks Oeuvre prägen. So zeigt sich die Konstruktion von ethnischer / kultureller Fremdheit beispielsweise deutlich in Texten wie Bambiland und Babel oder aber in Die Schutzbefohlenen. Virulent ist zudem auch die Frage der sozial Anderen, zumeist eng mit der Frage nach der Stellung, nach dem Nicht-Ort der Frau verbunden (u.a. Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften). „Die Frau“, auf deren von den herrschenden Männern konstruierte Andersheit bereits Simone de Beauvoir aufmerksam gemacht hat („Die Frau […] wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“8), ist wohl die am häufigsten diskutierte Kategorie in Jelineks Texten und dabei oft mit der Frage nach den Möglichkeiten kreativer Arbeit, mit der Frage nach Autor_innenschaft verbunden. Die Figur des Dichters / der Dichterin zeichnet ebenfalls wieder eine eigene Fremdheit aus, ein Im-Abseits-Stehen ganz im Sinne von Nietzsches Wanderer-Figur oder Simmels Fremden – oder doch nicht ganz in diesem Sinne, ist jedes Nach-Schreiben doch immer schon ein Um-Schreiben beziehungsweise ein Anders-Formulieren, was sich deutlich auch an Wolken.Heim. zeigt, in welchem nicht nur einfach zitiert, sondern die Zitate verändert, in neue Kontexte gestellt und so zum Teil gegen sich selbst ins Feld geführt werden. Wie Simmels Fremder ist der/die Autor_in bei Jelinek immer zugleich Teil von und außerhalb der Gesellschaft, mehr noch; er/sie ist gerade durch sein/ihr Außerhalbsein erst Teil der Gesellschaft und vice versa. Sie ist nicht einfach der/die, der/die kommt und bleibt, sondern der/die, der/die morgen schon gegangen sein wird – der/die zumindest potentiell in der Anwesenheit immer schon die Möglichkeit der Abwesenheit bezeugt. Schon um sich als Autor_in in die Gesellschaft einzuschreiben, muss der/die Autor_in Autor_in sein: An- und Abwesenheit finden nicht nur gleichzeitig statt, sie bedingen einander und lösen einander zugleich auf.9

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1 Jelinek, Elfriede: DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs. In: Handke, Peter (Hg.): Der gewöhnliche Schrecken. Horrorgeschichten. Salzburg: Residenz Verlag 1969, S. 146-160.
2
Ebd., S. 153.
3 Ebd., S. 147.
4 Zur Alterität und Identität in DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs vgl.: Babka, Anna: Frauen.Schreiben–Jelinek.Lesen. Aspekte einer allo-écriture (feminine) in Texten Elfriede Jelineks (nach Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva). In: Liu, Wei / Müller, Julian (Hg.): FRAUEN.SCHREIBEN. Wien: Praesens Verlag 2014, S. 17-52, S. 23-25.
5 Vgl.: Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Ü: Uli Aumüller und Grete Osterwald. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 2014.
6
Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler 2000, S. 178.
7
Müller-Funk, Wolfgang: DAS EIGENE UND DAS ANDERE / DER, DIE, DAS FREMDE. Zur Begriffsklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels. http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/WMueller-Funk2.pdf (22.12.2017), datiert mit 15.9.2002, S. 2.
8
Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht, S. 12.
9 Zur Frage der Autor_innenschaft bei Jelinek vgl.: Clar, Peter: Ich bleibe, aber weg. Dekonstruktionen der AutorInnenfigur(en) bei Elfriede Jelinek. Bielefeld: Aisthesis 2017. Zur Frage des Autors / der Autorin als Wanderer_in vgl.: Ebd., S. 136-165.

In: Teutsch, Susanne (Hg).: Was zu fürchten vorgegeben wird“. Alterität und Xenophobie. Wien: Praesens Verlag 2019, S. 69-77.