„Wie oft habe ich ,Paul‘ sagen können…“ — zur (De-)Konstruktion des/ der ,Beschickten‘ in Ingeborg Bachmanns und Paul Celans Briefwechsel Herzzeit

 

1. Von der Untrennbarkeit von Literatur und Literaturwissenschaft

Die Wächter der Tradition, die Professoren, die Universitäre und Bibliothekare, die Doktoren und Autoren von Dissertationen sind schrecklich neugierig auf Korrespondenzen (worauf sonst kann man eigentlich neugierig sein?), auf PKs, private oder publike KORRESPONDENZEN (eine Distinktion ohne Triftigkeit in dem Fall, von daher, die Postkarte, PK, halb-privat, halb-publik, weder das eine noch das andere, und die nicht die Postkarte stricto sensu abwartet, um das Gesetz des Genres zu definieren, aller Genres), neugierig auf Texte, adressiert, destiniert, dediziert von einem bestimmbaren Signatar einem besonderen Empfänger,1

beschwert Jacques Derrida*‚ gekennzeichnet mit einem Asterix, weil er „ohne Zweifel mehrere“ sei und „nicht so allein, wie ich es bisweilen sage“,2 sich bei dem/der Beschickten, seinem Gegenüber welches er (oder vielleicht eher sie) scheinbar adressiert (scheinbar er, scheinbar der/die Beschickte), scheinbar selbst der Schickungsort, der, obwohl vorab vom Absender gesetzt, sich erst bei Ankommen der Karte/des Briefs als solcher entpuppt, vorher nicht ist (oder schon, aber immer nur als notwendige Möglichkeit, nicht als feststehender Ort). Und er fährt fort, was schon bis zu jener Seite 79 passiert ist, mit seinen Postkarten (deren einzelne Textlänge aber auch schon das Format der Karte sprengt) oder Briefen oder ist es ein Roman?, die Gattungen zu hinterfragen, binäre Oppositionen wie privat—öffentlich, Sender—Empfänger, Literatur—Egodokumente etc. nicht nur umzukehren, sondern zu verwirren, und damit auch jene Zuschreibungen in Frage zu stellen, die Briefe, gegenüber der ,Literatur‘ (was immer das auch sein soll) eine höhere Authentizität zusprechen (weil autobiographisch, weil ,wahrer‘). „Dichtung als ,Flaschenpost‘ bei Paul Celan und Ingeborg Bachmann“3 nennt Gudrun Kohn-Waechter einen Beitrag zu gegenseitigen Bezugsnahmen in den Texten der beiden AutorInnen und Das Briefgeheimnis der Gedichte4 Andrea Stoller und Hans Höller ihr Nachwort zum 2009 erschienenen Briefwechsel zwischen Bachmann und Celan. Dabei geht es in beiden Aufsätzen um das Auffinden der biographischen Spuren in der Lyrik beider AutorInnen. Die Suche nach dem ,Authentischen‘ in literarischen Texten nimmt dabei schon fast groteske Züge an, kann aber scheinbar trotzdem nicht unterlassen werden, was bei Stoller und Höller in Sätzen wie „Bachmanns biographisch radikalste fiktionale Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Herkunft“5 gipfelt. Welche Mühe es macht, das authentisch-biographische in den ,literarischen‘ Texten zu suchen, oder viel-mehr: selbiges in die Texte hineinzulesen, wird hier deutlich, der Satz dekonstruiert sich quasi selbst, ,biographisch‘ und ,fiktional‘ werden ein und demselben Textprojekt (hier den Todesarten) zugeschrieben, ihre sonst behauptete Differenz damit aufgehoben. Trotzdem setzt Höller, um es salopp auszudrücken, ‚noch eines drauf‘, indem er in seiner 2011 erschienenen Polemik gegen Sigrid Weigels Bachmann-Biographie derselben empfiehlt, doch nach Kärnten zu reisen, um Bachmanns erste Erzählung Das Honditschkreuz richtig zu verstehen, oder, wie es Höller ausdrückt, ihre „Lektüre korrigieren [zu] können.“6

Anstatt mich nach Kärnten (nach Wien, Rom oder Paris) zu begeben, möchte ich mich aber lieber den Texten Bachmanns, genauer ihren Briefen, widmen, für die ich eine Lektüre vorschlagen möchte mit der/ durch die/ in der Dekonstruktion, eine literaturwissenschaftliche Lektüre für angeblich faktionale Texte also (angeblich nicht, weil sie nicht auch faktional sind, sondern niemals rein faktional), denn, so Paul de Man, alles Sprechen sei rhetorisch: „Die Trope ist keine abgeleitete, marginale oder anormale Form der Sprache, sondern das linguistische Paradigma par excellence,“ schreibt er und unterstreicht das mit Nietzsche: „Es giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit‘ der Sprache [. . .] , die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten.“7

[…]

1 Jacques DERRIDA, Die Postkarte vor; Sokrates bis an Freud und jenseits. (1. Liefe-
rung). Berlin 1989, S. 79.
2 Ebd., S. 11.
3 Vgl. Gudrun KOHN-WAECHTER, Dichtung als ‚Flaschenpost‘ bei Paul Celan und
Ingeborg Bachmann. In: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.), Poetische
Korrespondenzen. Frankfurt a. M. 1997, S. 211—230.
4 Vgl. Hans HÖLLER/Andrea STOLLER, Das Briefgeheimnis der Gedichte. In: Inge-
borg Bachmann/Paul Celan, Henzeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 224—243.
5 Ebd., S. 241.
6 Hans HÖLLER, Sigrid Weigels anti-biographische Biographie. Eine kritische Lektüre. In: Wilhelm Hemecker/ Manfred Mittermayer (Hg.), Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Wien 2011, S. 37—53. Hier: S. 48.7 Paul DE MAN, Rhetorik der Tropen (Nietzsche). In: ders., Allegorien des Lesens. Frankfurt a. M. 1988, S. 146—163. Hier: S. 148.

In: Montserrat Bascoy / Lorena Silos (Hgs.): Autobiographische Diskurse von Frauen (1900-1950). Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 87-95.